Der rasante Aufstieg des Menschen zum Homo sapiens sapiens, zu einem modernen, über die Maßen klugen und verständigen Wesen, mag viele Gründe haben. Doch von überragender Bedeutung sind ohne Zweifel die Ausbildung und der Gebrauch einer immer differenzierteren Sprache. Bedauerlicherweise ist es aber gerade um sie schlecht bestellt. Die neuen revolutionären Kommunikationsmittel, die damit einhergehende atemberaubende Geschwindigkeit der Datenübertragung, die Dynamisierung von Arbeitsprozessen, die Digitalisierung fast aller Lebensbereiche und eine Diktatur des Nutzens, die sich in vielen Gesellschaften breitmacht, fordern ihren Tribut. Ob der sich auskristallisierenden Rahmenbedingungen wird das großartige Bauwerk der Sprache, einem Vandalismusakt gleich zerstört. Man spricht und schreibt in Wortfetzen, in Abkürzungen und Emoticons; auf Rechtschreibung und Interpunktion wird verzichtet; die Regeln der Grammatik werden ohne Bedenken ignoriert, sofern sie überhaupt noch gewusst werden; Kategorienfehler und semanstisches Kauderwelsch stehen an der Tagesordnung. Untrügliche Indizien für die Ausbreitung dieses Analphabetismus des 21. Jahrhunderts sind Beiträge in diversen Foren, sozialen Netzwerken und Videoportalen. Was man hier bisweilen zu lesen und zu hören bekommt, lässt einen am Intellekt von Homo sapiens sapiens, mithin an dessen Geisteskraft zweifeln. Aber auch im täglichen E-Mail-Wahnsinn hat man den Anspruch auf wohlgeformte Sätze, semantische Folgerichtigkeit und Kohärenz längst aufgegeben. Selbst an Hochschulen greift man immer häufiger zur ökonomisierten Verständigung in Halbsätzen. Doch dieser Art Verlust der Sprache hat fatale Konsequenzen. Sprache dient nämlich nicht nur der Verständigung der Individuen untereinander, ist nicht nur die fundamentale Voraussetzung für alle, auf komplexe Kooperation fußenden großen gesellschaftlichen Funktionsbereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft und Politik, sondern ist eine schlechthin unverzichtbare Grundlage des Denkens. Sprache ist nicht nur ein Mittel zum Ausdruck oder zur Mitteilung von Denkinhalten, sondern Denken und Sprache bilden weithin eine Einheit. Das hat Leibniz lange vor Humboldt nachdrücklich betont. In § 1 seiner ›Unvorgreiflichen Gedanken‹ ist sinngemäß zu lesen: Es ist bekannt, dass die Sprache ein Spiegel des Verstandes ist und dass die Völker, wenn sie den Verstand hoch schwingen, auch zugleich die Sprache wohl ausüben. So lässt sich also – den Schluss von Leibniz umgekehrt – am Verlust der Sprache eine Atrophie des Verstandes, mithin der Denkfähigkeit diagnostizieren und anstatt in höheren Gefilden zu verweilen liegt der Verstand nicht selten am Boden. Am Ende dieser Bewegung wird Homo sapiens sapiens nicht nur unfähig sein, widerspruchsfreie Denkgebäude aufzustellen, vermittelst derer man einen Gegenstandsbereich nach Grund und Folge zu ordnen vermag, sondern ebenso unfähig, selbst einfache Zusammenhänge zu erfassen, zu reflektieren und sich diesbezüglich systematisch zu äußern. Er wird daher auf deutlich einfachere, primitivere Formen des Verstehens und der Verständigung zurückgreifen müssen und dies wird ihm zum Verhängnis werden. Was einst seinen Aufstieg markierte – die Ausbildung und der Gebrauch differenzierter Sprache – wird dereinst – wenn sie in sich zusammengebrochen ist – seinen Untergang bedeuten. Da klingt die Auffassung Leibnizens wie eine Mahnung an die Moderne: Zur Erkenntnisbemühung des Einzelnen muss die Sprachpflege in der Gemeinschaft hinzutreten. Nur so ist eine Steigerung der Ausdrucksfähigkeit und damit zugleich der Erkenntnisfähigkeit möglich, und nur so lassen sich Verstand und Gelehrsamkeit, Wissenschaft und gemeine Wohlfahrt, ja Moralität und Freiheit befördern.
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